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Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?
Es ist schwierig, nicht die Geduld zu verlieren, wenn man die ersten sieben, acht Kapitel von "Go Set a Watchman" liest, jenem seit Monaten sehnsüchtig erwarteten Vorgänger-Roman zu Harper Lees Welterfolg von 1960, "Wer die Nachtigall stört" - der schon vorab für Wirbel sorgte und am Dienstag endlich in den USA erschienen ist.
Seite um Seite dieses Buchs, das in Deutschland am Donnerstag unter dem Titel "Gehe hin, stelle einen Wächter" erscheint, wird man in die Alltagsrhythmen und die vielen ungeschriebenen Regeln des Kleinstadtlebens im amerikanischen Süden eingeweiht, in die komplizierten Rituale, die im Alabama der Fünfzigerjahre soziale Unterschiede herstellten und bewahrten.
Man muss einen länglichen Exkurs über die Geschichte des fiktiven Landkreises Maycomb ertragen. Man kämpft sich durch eine lange Charakterstudie der Tante der Erzählerin Jean Louise Finch und durch Detailbeschreibungen der Hauseinrichtung der Finchs, bevor man der Hauptfigur Atticus Finch wieder begegnet - jenem alten Bekannten aus der "Nachtigall", unsterblich gemacht durch Gregory Peck in seiner Oscar-Darbietung von 1962.
Nach und nach ahnt man als Leser, warum Lee mehr als 50 Jahre lang die Existenz dieses Buches verschwiegen hat. Die vielen Millionen Fans und Kenner der "Nachtigall", jenem allseits beliebten Wohlfühlstück, kann dieser sperrige, über Strecken chaotische Text nur enttäuschen. Und als dann endlich Jean Louises Vater die Szene betritt, wenden sich die Dinge nicht zum Besseren.
Atticus Finch besucht Sitzungen des Ku-Klux-Klan
Der rechtschaffene Südstaaten-Rechtsanwalt aus Lees Bestseller, der im rassistischen Süden der Dreißigerjahre aus Überzeugung und gegen den Widerstand seiner Mitbürger einen jungen schwarzen Mann gegen eine verleumderische Vergewaltigungsklage verteidigte, entpuppt sich im "Wächter" als zutiefst bigott. Zu ihrem eigenen Schrecken - und dem der Leser - entdeckt Jean Louise, dass ihr Vater und mit ihm ihr Geliebter regelmäßig Sitzungen des Ku-Klux-Klan besucht und eine tiefe Abscheu gegen die Desegregation hegt, die Ende der Fünfzigerjahre dem Süden droht.
Der Leser hat zu diesem Zeitpunkt nun die Wahl, das neu publizierte Werk als unfertig und unausgegoren abzutun, um die "Nachtigall" als das wahrhaftige Vermächtnis der heute 89-jährigen Lee zu schützen. Die meisten Kritiker in den USA wählen diesen Weg - und empören sich über die Demontage einer moralischen Leitfigur. Nur die wenigsten trauten sich, dem neuen Buch sein Eigenleben zuzubilligen.
Das ist schade, denn die literaturgeschichtliche Stellung von Lee wird um so vieles interessanter, wenn man beide Texte, die "Nachtigall" und den "Wächter", nebeneinanderlegt. Die "Nachtigall" alleine war als Erbauungsdrama zu Beginn der Sechzigerjahre für Amerika zweifellos wichtig. Doch nur beide Bücher zusammen, nebst ihrer komplizierten Publikationsgeschichte, geben einen wirklichen Einblick in den Geist jener Zeit.
Mauer zwischen der Erzählerin und ihrer Herkunft
Der "Wächter" ging der "Nachtigall" voran, er war das Originalmanuskript, das Lee 1957 an New Yorker Verlage schickte. Und obgleich in der dritten Person verfasst, ist es ein stark autobiografisches Werk.
Das Buch ist die betont undramatische Schilderung einer Heimkehr. Wie Lee selbst reist die Heldin Jean Louise von ihrer Wahlheimat New York zurück in den Süden, wo sie aufgewachsen ist. Sie fühlt sich angekommen hier: "Es kommt mir so vor, als wäre dies die Welt. New York ist nicht die Welt."
Doch je länger sie dort ist, umso mehr muss sie feststellen, wie sehr sie sich vom Süden, seiner Moral und seiner sozialen Ordnung entfremdet hat. Die Tatsache, dass ihr Liebhaber und ihr Vater, allem scheinbaren Liberalismus zum Trotz, in ihrem Innersten nicht von ihren Vorurteilen lassen können, wird zur unüberwindbaren Mauer zwischen ihr und ihrer Herkunft.
Amerikanische Archetypen
Wie genau aus dem "Wächter" die "Nachtigall" wurde, bleibt unklar. Lee selbst schweigt dazu beharrlich, ihre frühere Lektorin ist 1974 verstorben. Doch die Vermutung liegt nahe, dass man seinerzeit etwas wollte, das weniger Salz in die gerade erst offen aufbrechenden Wunden der Nation streute.
Der Prozess gegen den Schwarzen Tom Robinson, im "Wächter" kaum mehr als eine Anekdote, rückte in der "Nachtigall" in das Zentrum des Geschehens, das in die Dreißigerjahre, die Kindheit von Jean Louise, vorverlegt wurde. Das damals acht Jahre alte burschikose Mädchen mit dem Spitznamen "Scout" wird zur Erzählerin, und anders als im "Wächter" verliert Atticus den Prozess. Er verzweifelt beinahe an der Unverbesserlichkeit des Südens. Aber er lehnt sich nicht dagegen auf.
Im "Wächter" erfahren wir nun, wie tief er selbst den Rassismus des Südens verinnerlicht hatte, auch wenn er sich gleichzeitig dem Gleichheitspostulat der amerikanischen Verfassung verpflichtet fühlte. Es ist die realistische Zeichnung eines amerikanischen Archetypen: Des liberalen Südstaatlers, der gönnerhaft seinen schwarzen Nachbarn Gutes angedeihen lassen will - für den wirkliche Gleichstellung jedoch undenkbar bleibt.
In der Hitze der Bürgerrechtsbewegung der Sechzigerjahre war für eine so nuancierte Figur kein Platz. Damals mussten klare Linien zwischen Gut und Böse gezogen werden. Doch angesichts der Ereignisse der vergangenen Jahre, in denen der Rassismus nicht nur im Süden, aller formaljuristischen Fortschritte zum Trotz, unübersehbar zutage tritt, wird der ambivalente, weniger heroische Atticus immer plausibler.
So könnte das Timing der "Wächter"-Veröffentlichung nicht besser sein. Amerika, so hofft man, ist im Jahr 2015 dazu bereit, sich seinen tiefen Widersprüchen zu stellen - und einen Atticus Finch zu begreifen, der die Rassentrennung ebenso feurig verteidigt wie die Verfassung.
Harper Lee:
Gehe hin, stelle einen Wächter
Übersetzung: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
Deutsche Verlags-Anstalt; 320 Seiten; 19,99 Euro
Buch bei Amazon: "Gehe hin, stelle einen Wächter" von Harper Lee